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Die Gefahren einer Nettigkeitskultur im Unternehmen

Übersetzung des Artikels The Hazards of a "Nice" Company Culture von Timothy R. Clark, erschienen am 25. Juni 2021 in der Harvard Business Review.

Zusammenfassung

In viel zu vielen Unternehmen gibt es den Anschein von Harmonie und gemeinsamer Ausrichtung, aber in Wirklichkeit brodelt oft Dysfunktion unter der Oberfläche. Die Absicht hinter dem Pflegen einer Nettigkeitskultur ist hingegen oft echt. Die Führungskräfte glauben, dass sie etwas Gutes tun, welches Menschen motiviert und Zugehörigkeit erschafft. Aber es hat oft den gegenteiligen Effekt und das Ergebnis ist ein Mangel an ehrlicher Kommunikation, intellektuellem Mut, Innovation und Verantwortlichkeit. Um eine Kultur zu bekämpfen, die von toxischer Nettigkeit geprägt ist, schlägt der Autor vor, dass Führungskräfte vier Taktiken anwenden: Erwartungen und Leistungsstandards klären. Den Status Quo öffentlich in Frage stellen, auch wenn sie ihn mit gestaltet haben. Schutz bieten für Personen, welche die Wahrheit aussprechen. Leistungsprobleme sofort adressieren.

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Haben Sie schon einmal an einem Meeting teilgenommen, das nicht das eigentliche Meeting war? Jeder
war freundlich und gefällig im Meetingraum, ging dann aber los, um Gespräche im Hinterzimmer zu führen und Schuldige zu suchen. Diese Art von Heuchelei ist eines der vielen Symptome einer „netten“ Kultur. Aber was
als Nettsein angepriesen wird, ist oft nichts anderes als nur ein Anstrich von Höflichkeit, eine süße Anspielung auf psychologische Sicherheit, ein unwirkliches Abbild, das fälschlicherweise Zugehörigkeit, Zusammenarbeit und hohes Leistungsvermögen signalisiert. In vielen dieser Kulturen haben die Führungskräfte einfach eine dünne Schicht Höflichkeit über eine dicke Schicht Angst gezogen. Es entsteht der Anschein von Harmonie und gemeinsamer Ausrichtung, aber in Wirklichkeit brodelt oft eine Dysfunktion unter der Oberfläche, die zu einem Mangel an ehrlicher Kommunikation, intellektuellem Mut, Innovation und Verantwortung führt.

Warum Organisationen nach Nettigkeit streben

Die Absicht hinter dem Pflegen einer Nettigkeitskultur ist oft aufrichtig. In meiner Erfahrung ist es zum Beispiel üblich für Organisationen mit einem ehrenwerten institutionellen Auftrag - wie Bildungseinrichtungen, Organisationen im Gesundheitswesen, Regierungsbehörden, gemeinnützige und freiwillige Vereine - ein Umfeld der Kollegialität zu pflegen, das aus ihrer Mission entspringt. Ein wohlwollender Auftrag neigt dazu, einen wohlwollende Kultur zu fördern, und eine wohlwollende Kultur neigt dazu, Nettigkeit hervorzubringen. Ich habe zum Beispiel mit einer Biotechnologiefirma zusammengearbeitet, die eine tief verwurzelte Mission hatte: Patientensicherheit bewahren. Ironischerweise mutierte dieser Sinn des Mitgefühls für Patienten zu einer Nettigkeitskultur, welche das Aussprechen von Wahrheiten in den Untergrund trieb.

Es gibt viele Gründe, warum Führungskräfte nach Nettigkeit streben. Basierend auf meiner Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Hunderten von Organisationen und Tausenden von Führungskräften der letzten 20 Jahre, nenne ich hier die vier Hauptgründe.

Um Konflikte zu vermeiden und Zustimmung zu erhalten. Als Spiegelbild ihres eigenen Wunsches, gemocht zu werden, vermeiden Führungskräfte oft Konflikte und stigmatisieren abweichende Meinungen. Sie sind lieber nett als beleidigend, weil sie fälschlicherweise glauben, dies seien die zwei einzigen Möglichkeiten.

Um echte Zugehörigkeit zu ersetzen. Einige Organisationen sehen Nettigkeit stellvertretend für Zugehörigkeit. Sie glauben, nett zu sein bedeutet, menschlich zu sein. Falls Sie beobachten, dass verschiedenartige Mitarbeitergruppen sich selbst in natürliche Bezugsgruppen aufteilen, könnte dies ein Indikator für eine unausgesprochene „getrennt, aber nett“ Philosophie sein.

Um Menschen zu motivieren, anstatt sie zur Rechenschaft zu ziehen. Ja, zwischenmenschliche Wärme schafft einen Möglichkeit der Einflussnahme, aber Sie brauchen trotzdem Rechenschaftspflicht. Ich habe einmal mit einem sehr umgänglichen CEO zusammengearbeitet, der, zu seiner fortwährenden Bestürzung, eine toxische Nettigkeitskultur geschaffen hat, in der die Menschen sich umarmen und dann [aber] gegenseitige gegebene Zusagen nicht einhalten.

Die gefährlichen Schattenseiten einer Nettigkeitskultur

Die negativen Folgen von Nettigkeit sind nicht nur unangenehm, sie können für eine Organisation katastrophal sein. Zu den Nachteilen zählen:

Aktivität in Krisenzeiten. Manchmal wird die Trägheit in einer Nettigkeits-Kultur so stark, dass die Organisation ihre Fähigkeit verliert, präventiv zu handeln. Die Leute warten, bis ein Problem so groß wird, dass es nicht mehr ignoriert werden kann. Wie ist es z.B. möglich, dass die University of Southern California mehr als 25 Jahre gebraucht hat, um, in Verbindung zu den Vorwürfen wegen sexuellen Missbrauchs gegen Dr. George Tyndall, einen Campus-Gynäkologen, aktiv zu werden, was schließlich in einer Beilegung mit insgesamt schwindelerregenden 1,1 Milliarden US-Dollar endete? Ich habe persönlich mit mehr als 30 Universitäten in den letzten 20 Jahren gearbeitet und beobachtet, dass sie berüchtigt dafür sind, Niedrig-Performer und schlechte Schauspieler in die Ecke zu stellen, anstatt direkt auf ihre Leistung einzugehen. Nettigkeitskulturen neigen dazu, eine fälschliche Zweiteilung zu pflegen, in der Sie entweder nett sein können oder Menschen zur Rechenschaft ziehen können, aber nicht beides.

Abgewürgte Innovation. Innovation stört naturgemäß den Status Quo, und doch ist sie das Lebenselixier des Wachstums. Innovation ist auch ein soziales Prozess, der auseinander driftendes Denken und couragierte Gespräche erfordert. Allgegenwärtige Nettigkeit unterdrückt diesen Prozess und schafft einen intellektuellen Maulkorb, der Teams von außergewöhnlich talentierten Menschen in dysfunktionale Gruppen verwandeln kann. Ich arbeite häufig mit Institutionen zusammen, die dringend Innovationen ankurbeln müssen, aber ihre Nettigkeitskultur verlangsamt das Gewinnen von Erkenntnissen.

Aderlass für Talent. Talentierte Menschen wollen einen sinnhaften Beitrag erbringen. Top-Mitarbeiter wollen eine gesunde Kultur, in der sie dafür belohnt werden können, wenn sie den Status Quo in Frage zu stellen. Ein solcher Top-Mitarbeiter, der in einem großen Pharmaunternehmen arbeitete, sagte zu mir: „Ich würde lieber in einer autoritären toxischen Kultur als einer toxischen Nettigkeitskultur arbeiten, denn in der autoritären toxischen Kultur würden sie mir zumindest sagen, dass ich falsch liege, wenn ich den Status Quo in Frage stelle. Ich kann das System herausfordern, eine Reaktion erzwingen und vielleicht führt das dann zu etwas. In einer toxischen Nettigkeitskultur reden sie mir nach dem Mund und nichts wird danach jemals passieren.“

Entscheidungsfindung bei niedriger Geschwindigkeit. In einer Nettigkeitskultur gibt es den Druck mitzumachen, um mit anderen auszukommen. Eine geringe Toleranz gegenüber Offenheit macht die nötige Diskussion und Analyse für die Entscheidungsfindung seicht und langsam. Sie landen entweder in einer Echokammer, in der die Gleichartigkeit der Gedanken Sie zu einer fehlerhaften Entscheidung führt, oder Sie führen schier endlose Diskussionsrunden auf der Suche nach einem Konsens. Dies kann schließlich zu einer chronischen Unentschlossenheit führen. Ich habe zum Beispiel mit einer Organisation im Gesundheitswesen gearbeitet, die so nett wurde, dass sie beschlossen, mit einem Konsens-Modell der Entscheidungsfindung zu arbeiten. Es war eine absolute Katastrophe. Der CEO zog bei diesem Experiment nach drei schmerzhaften Monaten des Schwimmens in dem Meer der Mehrdeutigkeit den Stecker.

Erlernte Hilflosigkeit. Eine unsichtbare Norm der Nettigkeit kann Angepasstheit, Passivität und erlernte Hilflosigkeit begünstigen, welche die Messlatte für Leistung absenken. Ich habe zum Beispiel von Verwaltungsangehörigen, Lehrkräfte und Mitarbeiter an Spitzenuniversitäten gehört, die sich schmerzlich über die verdummende höfliche Art der Akademien beschweren, wie sie die Moral zerstört und Eigeninitiative auslöscht. Ein Verwaltungsangestellter sagte mir, Nettigkeit ist zu einer Zwangsjacke geworden, die institutionelle Reformen in ernsthafte Gefahr bringt. Anstatt die Umwelt herauszufordern, in der Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation, heben die Leute die Hände und schweigen.

Kampf gegen Nettigkeit

Es gibt mehrere Strategien, die Sie anwenden können, um die oben geschilderten Folgen zu vermeiden oben und eine freundliche Kultur anstelle einer Nettigkeitskultur zu schaffen.

Erwartungen, Leistungsstandards und Arten von Meetings klären. Mehrdeutigkeit nährt toxische Nettigkeit, also erklären Sie, welchen Umgang Sie untereinander von den Leuten erwarten und wie sie sich gegenseitig zur Rechenschaft ziehen sollen. Sagen Sie ausdrücklich, dass Sie intellektuelle Ehrlichkeit, offenes Feedback und hartnäckiges Nachfragen erwarten. Diese Veränderungen werden nicht einfach sein, daher ist es unbedingt erforderlich, dass Sie den aktuellen Zustand der Organisation, den zukünftigen Zustand und wie der Übergang zwischen den beiden funktionieren wird, klar erläutern. Sobald Sie die neuen Erwartungen kommunizieren haben, ziehen Sie Personen für Verstöße zur Rechenschaft. Schlussendlich sollten Sie, wenn Sie Meetings durchführen, eine Agenda parat haben und die Art des geplanten Treffens erklären. Wenn es darum geht, zu diskutieren und zu entscheiden, dann sagen Sie es. Wenn es sich um ein Sondierungstreffen zur Ideenfindung und Innovation handelt, lassen Sie es jeden im Vorfeld wissen. Wenn es um Kommunikation und Koordination geht, dann behalten Sie das nicht für sich.

Stellen Sie den Status Quo, den Sie mitgestaltet haben, öffentlich in Frage. Erwarten Sie nicht, dass andere ihre Ängste überwinden und eine neue Ära der Wahrheitsfindung einläuten, wenn Sie das Verhalten nicht vorher vorgelebt haben. Sie müssen der Vorreiter sein, Verletzlichkeit und Fehlbarkeit demonstrieren und Menschen zeigen, dass Ehrlichkeit belohnt wird. Wenn andere sehen, dass Sie Ihre Ego-Verteidigungsmechanismen und Ihren Stolz auf das, was Sie in der Vergangenheit erreichtet haben, beiseite werfen, wird es den Anderen Mut machen.

Sorgen Sie für einen Schutzschirm bei Offenheit. Wenn Leute den Mut haben, abweichende Ansichten zu äußern und offen zu sprechen, dann schützen Sie sie. Reduzieren Sie das Risiko, dass andere lächerlich gemacht werden, indem Sie jenen danken, die offen sprechen. Wenn Sie Platz für abweichende Meinungen einräumen, werden Sie die Normalität nach und nach umgestalten, bis abweichende Meinungen zu einer kulturellen Erwartungshaltung werden.

Sprechen Sie Leistungsprobleme sofort an. Wenn Sie ein Leistungsproblem nicht zur Sprache bringen, dann dulden Sie Minderleistung. Und wenn Sie zögern, Maßnahmen zu ergreifen, dann schaffen Sie Verwirrung. Ziehen Sie Menschen unter vier Augen zur Rechenschaft und seien Sie respektvoll. Menschen, die diese neuen Grenzen nicht respektieren, haben eine Wahl: Entweder die neue Normalität anzunehmen oder eine neue berufliche Perspektive zu finden. Das Einzige, was sie nicht tun werden können, ist sich im Job zurückzulehnen, weil dies keine Option mehr ist.

Martin Luther King Jr. sagte in seinem berühmten Brief aus dem Gefängnis von Birmingham „… es gibt eine Art konstruktiver, gewaltfreier Spannung, die notwendig ist für Wachstum." Deckeln Sie diese Spannung nicht durch Ihre Bemühungen, nett zu sein. Kanalisieren und arbeiten Sie mit der Spannung. Das ist echte Freundlichkeit.

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Timothy R. Clark ist Gründer und CEO von LeaderFactor, eines globalen Unternehmens zur Führungsberatung- und Ausbildung. Er ist der Autor von The 4 Stages of Psychological Safety: Defining the Path to Inclusion and Innovation (Berrett-Köhler 2020).

Link zum Originalartikel

https://hbr.org/2021/06/the-hazards-of-a-nice-company-culture